Augenblick mal bitte!

Da steht sie nun und wird mitten in der Bahn angegafft. Direkt und schonungslos. Ein Flirtversuch oder schlichtweg Dreck im Gesicht? Nach einer langjährigen Beziehung ist unsere Autorin wieder unter die Singles gegangen. Was sie dabei erlebt, verrät sie in ihrer Kolumne “Solitärspiel”.

© M. Rathje

Heute habe ich gemerkt, dass Sehen ein echt komplexes Thema ist. Kaum sind wir auf der Welt, lassen wir den Blick schweifen. Wir schauen mal hierhin, mal dahin. Wir schauen nach vorn, über den Tellerrand, hinter Fassaden, dämlich aus der Wäsche und manchmal zu tief in´s Glas. Aber immer schauen wir. Vollautomatisch. Zufällig. Unbewusst. 

Dass ein Blick so viel mehr sein kann, habe ich heute in der Bahn gemerkt. Wer einem Klaustrophobiker einen gewaltigen Schock versetzen möchte, sollte ihn zur Feierabendzeit in die Berliner U8 (aka „Heroinexpress“) stecken. Und genau da stehe ich – auf dem Fuß ein Kinderwagenrad, in den Rippen die Aktentasche meines Nachbarn und im Nacken ein bald platzender Kragen. Während ich noch überlege, ob es Warentrenner wie bei Supermarktkassen wohl auch für Menschen gibt, passiert es: Ich werde angeschaut – und zwar direkt.

Mein Zuschauer steht im nächsten Türbereich und zerteilt den Raum mit seinem Blick – markerschütternd, gnadenlos und fokussiert. Reflexartig schaue ich hinter mich. Der kann nicht mich meinen. Dann merke ich wieder, dass ich mit dem Rücken an der Wand stehe – ausgeliefert und unbewaffnet.

Ich sehe nochmal hin.

Er betrachtet mich immer noch.

Ich sehe weg. Ich sehe hin.

Er schaut immer noch. Und lächelt.

Ich sehe weg. 

Was zum Teufel soll ich denn damit jetzt anfangen? Ich bin so viel Aufmerksamkeit nicht gewohnt und weiß nicht, wohin mit mir. Mein erster Impuls sagt: “Raus hier. Schnell. Du stehst im Fadenkreuz und wirst gleich erlegt.” Mein zweiter Impuls sagt: “Bleib. Verweile im Lichtkegel des herannahenden Autos und lass dich einfach mal umhauen und überrollen.” Aber allein der Gedanke daran macht mich nervös… positiv nervös. Ich überlege und entscheide mich spontan für die Option “Bambi stirbt den Heldentod”.

Ich freunde mich ziemlich schnell mit meinem Schicksal an – dieses Bambi hier wird glücklich sterben. Also schüttle ich kurz meine Haare auf. Ich bin bereit, jeden Augenblick mit Blicken torpediert zu werden. Kaum will ich mich fügen, merke ich auch schon, dass mein Jäger von mir abgelassen hat. Das Objekt der Begierde bin nicht mehr ich, sondern das Smartphone. Verdammte Technik! Wahrscheinlich tindert mein Jäger gerade, geht digital auf die Pirsch und verpasst dadurch wortwörtlich den Augenblick seines Lebens.

Der Rückzug wurmt mich. Erst locken, dann bocken und nun auch noch blocken. Ich würde gerne mein Veto einlegen. Und während ich noch überlege, was ich jetzt tun kann, beschließe ich schon, dass ich das nicht hinnehmen werde.

Also suche ich seinen Blick – markerschütternd, gnadenlos und fokussiert. Das kann ich auch, Freundchen.

Und während nur eines Wimpernschlags wird Bambi zur Jägerin.